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Glücksspielmechaniken in Videospielen geraten unter massiven Druck
Europäische Verbraucherverbände aus 18 Ländern unterstützen einen neuen Bericht des norwegischen Verbraucherschutzverbands NCC, der den Verkauf und die Präsentation von Lootboxen als ausbeuterisch und manipulativ bewertet. Die Autoren fordern nationale und europäische Behörden auf, irreführende Designs zu verbieten, Minderjährige besser zu schützen und für mehr Transparenz zu sorgen.
Wie Lootboxen funktionieren und warum sie Glücksspiel simulieren
Finn Myrstad, Direktor für digitale Politik beim NCC, fasst die Kritik deutlich zusammen. Er sagt:
„Der Verkauf und die Präsentation von Lootboxen beinhalten oft die Ausbeutung von Verbrauchern durch räuberische Mechanismen, die Förderung von Sucht, die Ausrichtung auf schutzbedürftige Verbrauchergruppen und vieles mehr.”
Lootboxen sind digitale Überraschungspakete mit zufälligem Inhalt. Spieler erfahren erst nach dem Kauf, welcher Gegenstand enthalten ist. Das Prinzip ähnelt dem Glücksspiel, weil der Einsatz vor Offenlegung des Ergebnisses erfolgt und der Ausgang vom Zufall beeinflusst wird.
Die Inhalte können das Spielerlebnis spürbar verändern, etwa durch mächtige Ausrüstung, oder sie sind lediglich kosmetischer Natur. Die Monetarisierung erfolgt über Echtgeld und über verschachtelte Spielwährungen, die die tatsächlichen Kosten verschleiern können. Kritiker sehen darin einen bewussten Einsatz kognitiver Verzerrungen wie Verlustaversion und eine gezielte Adressierung von Minderjährigen.
Psychologische Hebel: Von Verlustaversion bis Herdeneffekt
Die Mobile- und Online-Gaming-Branche nutzt laut Branchenbeobachtungen und Forschern ein breites Arsenal verhaltenspsychologischer Taktiken. Dazu zählen zeitlich begrenzte Angebote im sogenannten Hot State, die Drohung, einmal gewährte Vorteile wieder zu entziehen, sowie soziale Vergleichsreize, wenn Ausgaben anderer sichtbar gemacht werden.
Ein Entwickler berichtete von künstlich geschaffenen Engpass-Leveln, die ohne zusätzliche Käufe kaum zu überwinden sind. In einem weiteren Fall wurde ein angeblich zufälliger Generator so gesteuert, dass Spieler früh große Gewinne erleben und später schlechtere Chancen erhalten, um weitere Käufe zu motivieren. Solche Mechaniken erzeugen variable Belohnungen, die als besonders suchtfördernd gelten.
Markt mit Milliardenvolumen und die Rolle der Whales
Die Videospielindustrie hat Mikrotransaktionen zu einer zentralen Erlössäule ausgebaut. Studien und Marktanalysen verorten die jährlichen Einnahmen aus lootboxähnlichen Mechaniken im zweistelligen Milliardenbereich. Ein erheblicher Anteil dieser Umsätze wird von einer kleinen, besonders ausgabefreudigen Gruppe erbracht, die in der Branche als Whales bezeichnet wird.
Ziel vieler Free-to-Play-Modelle ist es, einen Teil der großen Spielerbasis in diese Premiumzahler zu konvertieren. VIP-Programme und datengetriebene Identifikation potenzieller Großzahler sind dafür wichtige Bausteine.
Mehrere Untersuchungen zeigen, dass Lootboxen in vielen der meistverkauften Spiele vorkommen und dass nahezu alle Jugendlichen im Alter von 12 bis 17 Jahren mit solchen Systemen in Berührung kommen.
Durchschnittliche monatliche Ausgaben von Jugendlichen und jungen Erwachsenen für Lootboxen liegen laut einer Umfrage im zweistelligen Dollarbereich. Besonders problematisch ist der Befund, dass der Kauf von Lootboxen die Wahrscheinlichkeit eines späteren problematischen Glücksspielverhaltens erhöht.
Skin-Wetten in kompetitiven Spielen wurde als verlässlicher Prädiktor problematischen Glücksspiels identifiziert. Eltern berichten zugleich von Kontrollproblemen, verdeckten Ausgaben und Frustrationserlebnissen ihrer Kinder, wenn ohne Käufe kaum Fortschritt möglich ist.
Fallbeispiele zeigen die Nähe zum Glücksspiel
Einige Einzelfälle veranschaulichen die Mechaniken. Eine Spielerin investierte in eine Slot-App ohne reale Auszahlungen mehrere tausend Pfund und geriet in Schulden. Ein Datenanalyst gab über die Jahre fünfstellige Summen für Spielerpakete in einem Fußballspiel aus.
Beide zogen Parallelen zu festen Wettterminals und beschrieben typische Muster wie Kontrollverlust, Jagd nach seltenen Gegenständen und das Ausblenden realer Kosten. Solche Berichte unterstreichen, dass der Reiz der Spiele in bestimmten Konstellationen ähnliche Verhaltensweisen auslösen kann wie klassisches Glücksspiel.
Regulierungsdebatten in Europa
Die Rechtslage ist nicht einheitlich. Belgien stufte Lootboxen 2018 als Verstoß gegen das Glücksspielgesetz ein. In der Folge entfernte die Fußballspielreihe Fifa dort die virtuelle Währung und beschränkte Packs auf erspielte Belohnungen.
Die Niederlande verhängten 2019 eine Millionenstrafe gegen den Publisher, die jedoch 2022 gerichtlich aufgehoben wurde. Das Gericht argumentierte, die Lootboxen fügten dem Ultimate-Team-Modus zwar ein Zufallselement hinzu, machten jedoch nur einen Teil eines übergeordneten Geschicklichkeitsspiels aus.
In Großbritannien stellte eine Regierungskonsultation einen Zusammenhang zwischen Lootboxen und Schäden fest, sah aber keine Kausalität belegt und setzte vorerst auf Selbstregulierung der Branche.
Positionen der Branche und einzelne Kurskorrekturen
Unternehmen reagieren unterschiedlich. Ein EA-Manager verglich Lootboxen mit Überraschungseiern und nannte die Implementierung im Fußballspiel Fifa ethisch und unterhaltsam. EA betont die Wahlfreiheit und verweist auf Kindersicherungen sowie Kontrollen, mit denen Käufe begrenzt oder eingeschränkt werden können.
Einzelne Anbieter haben Transparenz verbessert. So konnten Spieler in einem populären Battle-Royale-Titel bereits 2019 den Inhalt bestimmter Boxen vorab einsehen.
Der britische Branchenverband Ukie verweist auf klare und benutzerfreundliche Elternkontrollen für Bildschirmzeit, In-Game-Käufe, Online-Interaktionen und altersgerechte Inhalte.
Von der Gaming Disorder bis zu Präventionsansätzen
Die Weltgesundheitsorganisation führte 2018 die Gaming Disorder in die Internationale Klassifikation der Krankheiten ein. Das amerikanische DSM-5-TR listet Videospielsucht als Erkrankung, die weiterer Forschung bedarf. Schätzungen gehen von einem kleinen, aber relevanten Anteil Betroffener aus.
Warnzeichen sind anhaltende Beschäftigung mit dem Spiel, Entzugserscheinungen, Toleranzbildung, Kontrollverlust, Leistungsabfall in Schule und Beruf, Lügen über Spielzeiten und das Spielen zur Gefühlsregulation.
Als wirksam gelten psychotherapeutische Verfahren wie kognitive Verhaltenstherapie, Gruppentherapie und Familienberatung. Präventiv helfen feste Zeitlimits, Geräte außerhalb des Schlafzimmers, alternative Aktivitäten, Familienmedienpläne und die konsequente Nutzung von Kindersicherungen inklusive Ausgabenlimits und Passwortschutz.
Was Behörden und Industrie jetzt leisten müssten
Angesichts von mehr als 2,8 Milliarden regelmäßigen Spielern und einer Branche, die größer ist als Kino und Musik zusammen, fordern Verbraucherverbände eine regulatorische Priorisierung. Der NCC-Bericht „INSERT COIN: Wie die Gaming-Branche Verbraucher mit Lootboxen ausbeutet“ benennt konkrete Problemfelder.
Er kritisiert irreführendes Design und Marketing, verschachtelte virtuelle Währungen und die gezielte Ansprache Minderjähriger. Finn Myrstad betont den Handlungsdruck. Er sagt:
„Spiele manipulieren Verbraucher dazu, große Summen Geld auszugeben, indem sie aggressives Marketing, die Ausnutzung kognitiver Verzerrungen und irreführende Wahrscheinlichkeiten einsetzen.”
Behörden und Industrie sollen Verantwortung übernehmen und ein sicheres Umfeld für Spieler gewährleisten.
Quellen: